Sonntag, 22. August 2010
Joachim Geil - Heimaturlaub
Es könnte so schön sein: eine Woche Urlaub im idyllischen Schwarzwald, bei der Großmutter, den Freunden – und vor allem bei Heidi, in die Dieter Thomas schon lange verliebt ist. Diese Woche wird er nutzen, um sie für sich zu gewinnen. Da ist er – trotz aller Nervosität – recht sicher, der schneidige, sympathische Leutnant, der auch im Heimaturlaub nur absolut korrekt gekleidet mit bis zum obersten Knopf geschlossener Uniformjacke auf die Strasse geht.
Seine Verletzung aus dem Russlandfeldzug sieht man ihm nicht mehr an. Zwischen Lazarett und Rückkehr an die Front verbringt er sieben flirrend heisse Sommertage. Tage der Liebe sollen es werden. Tage am Abgrund erwarten ihn. Und das liegt nicht an Heidi, die seine Liebe erwidert.
Es sind die Kriegserinnerungen, die seine Erlebnisse überlagern. Und es ist die sonderbare Form des Sterbens, die ihn Zuhause erwartet. Das Haus ist still, die Stimmung gedrückt. Während an der Front der Tod rasch und überraschend kommt, liegt hier das Warten auf das Sterben des Grossvaters bedrückend in der Luft. Vielleicht lebt dieser nur noch, um seinem Enkel eine letzte Botschaft zu überbringen: dass der Krieg falsch ist, angezettelt von einem Satan, dem der Leutnant jetzt dient.

Langsam, mit der Gewissheit, dass der Schmerz es von ihr verlangt, langsam zu sein, doch auch aus Erschöpfung, setzt die Grossmutter Löffel für Löffel an den Mund. Die Suppe ist dünn, aber die Kartoffeln sind zu schmecken.
Prima, sagt Dieter und lächelt Tante Emmy an, als sie ihm einen Nachschlag gibt. Die Grossmutter schweigt, und auch Dieter wagt es nicht, mit der Bemerkung herauszuplatzen, dass die Bahnfahrt ohne Verspätung vonstatten gegangen sei und der Anschluss in Winden direkt geklappt habe. Die Strenge, mit der Großmutters Kleid am Hals bis zum Kinn geschlossen ist, lässt Dieter an seine Uniform denken, deren obersten Knopf er noch immer nicht geöffnet hat. Die auf der Verandamauer stehenden Blumen duften still und dumpf, und es liegt etwas in der Luft, was er in ganz anderer Form tagtäglich in Einzelteilen und aufgerissenen Mündern voller Energie oder als beiläufiges Umkippen und Vornüberfallen, Zurseitesacken, Liegenbleiben im Zischen und Pfeifen oder als rückkehrloses Fernbleiben registriert hat. Es liegt der Tod in der Luft, mit einer Schwere, die Dieter nicht kennt, die er sich nicht vorstellen kann, nicht vorstellen will, denn was ist so Besonderes an ihm? Dieter sieht die in die Suppe blickende Grossmutter an und merkt, dass hier anders gestorben wird. Der Tod hat hier etwas Getragenes und Besonderes, hier wird ein Tod gestorben, der sich ankündigt und alle in seinen Bann zieht.


Joachim Geil hat als Vierzigjähriger seinen Debütroman veröffentlich – und damit einen fulminanten Einstieg hingelegt. «Heimaturlaub» erzählt eine mitreißende Geschichte mit überraschenden Wendungen; sie ist lebendig geschrieben und originell konzipiert. Geil erfindet einen Erzähler, der als Nachfahre von Leutnant Dieter Thomas dessen Kriegstagebuch mit seinen nüchternen bis nichtssagenden Eintragungen findet und dessen Lebensgeschichte rekonstruiert.
Sein Roman geht nur am Rand auf die Unmenschlichkeiten des Nazi-Regimes ein, indem er an einem dramatischen Beispiel – Dieters Onkel denunziert seinen Grossvater – die denunziatorische Stimmung aufgreift. Sonst bleibt er als Erzähler durchweg neutral. Er urteilt nicht, sondern berichtet nüchtern, wie Dieter Thomas – von den Grosseltern aufgefordert zu desertieren – wieder zurück in den Krieg geht und fällt. Was seine Verwandten ebensowenig wissen wie seine Geliebte Heidi: Der Tod ist nicht Pflichterfüllung, er ist auch der einzige Ausweg von den schaurigen Kriegserinnerungen, die ihn selbst tagsüber und im romantischen Beisammensein mit seiner Geliebten überkommen und die der Autor eindrücklich drastisch beschreibt.

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